Die Argumentationsfähigkeit der Studierenden mit Hilfe von KI-Schreibtools entwickeln
Bärbel Bohr, Mirjam Daum & Jessica Schulze-Bentrop
4. August 2023
Illustration des Themas aus dem Thinktank vom 23.03.2023 (DALL-E-Bild, das Studierende in symbolhafter Form beim Argumentationstraining zeigen soll).
Kritisches Denken und Argumentieren sind die Basis für den Umgang mit KI-Schreibtools
Die Bedeutung des kritischen Denkens und wirksamen Argumentierens beim Schreiben mit KI-Schreibtools wird in zahlreichen aktuellen Publikationen und Diskussionsbeiträgen hervorgehoben. Damit Studierende effektiv mit KI-Schreibtools arbeiten können, müssen sie kritisch denken können, so die gängige Forderung (Buck & Limburg 2023, Muthmainnah et al. 2022 oder Schelling et al. 2023). Dies bedeutet u. a., dass Studierende Argumente analysieren und überprüfen, eigene Argumente konstruieren und fremde Argumente bestätigen beziehungsweise widerlegen können. Kritisches Denken und Argumentieren bedingen und ergänzen sich gegenseitig, um effektiv analysieren, bewerten und kommunizieren zu können. Sie fördern damit zudem einen sachkundigen Diskurs inner- und außerhalb des eigenen Fachbereichs.
Die Ressourcen für individuelles Feedback fehlen
Die Entwicklung dieser Fähigkeiten erfolgt im Schreibunterricht an der Hochschule in der Regel auf Basis eines persönlichen Feedbacks durch die Lehrperson oder andere Mitstudierende. Den Studierenden ein individualisiertes und formatives Feedback zu geben, ist in Kursen mit hoher Teilnehmendenzahl zeitlich eine sehr große Herausforderung für die Lehrperson. Zwar können etwa Peer Feedbacks den Schreibprozess sinnvoll unterstützen. Oft kann jedoch eine Rückmeldung durch die Lehrperson erst am Ende des Schreibprojekts getätigt werden. Studierende erhalten also eher selten Feedback und dadurch wenig Anreiz, kontinuierlich ihre Argumentationsfähigkeit zu überarbeiten (siehe auch Jansen & Meyer 2022).
Feedback vom Chatbot
Inwiefern können KI-gestützte Schreibtools dabei helfen, dass die Bedürfnisse nach Rückmeldung besser erfüllt werden? In der idealen Variante könnte die Zukunft des wissenschaftlichen Schreibens nämlich ungefähr so aussehen:
Die Schreibenden nutzen die Funktionen aber vor allem, um systematisch alternative Lösungen und ihre Argumente zu stärken, indem sie Chatbots als Advocatus Diaboli einsetzen, um Teilergebnisse kritisch zu prüfen, breit zu validieren und blinde Flecken auszuleuchten, stets im Dienste der Qualität wissenschaftlicher Erkenntnis.
(Limburg et al. 2023, S. 5f.)
Nehmen wir ein konkretes, vereinfachtes Beispiel, wie dieser Prozess aussehen könnte. Es wurde mit ChatGPT auf Basis GPT-3.5 nachgestellt. Angenommen, eine Studentin lässt folgenden Text über die Standortwahl einer Windkraftanlage von einem KI-Tool wie ChatGPT überprüfen, indem sie nach der Qualität der vorhandenen Argumentation und möglichen Verbesserungen fragt: "Die Windkraftanlage sollte am Standort X errichtet werden, da dieser eine hohe Windausbeute und geringe Auswirkungen auf die Umwelt hat. Außerdem wird erneuerbare Energie politisch gefördert und der Ausstoß von Treibhausgasen reduziert." ChatGPT würde daraufhin als Antwort auf die Frage zurückgeben: "Ihre Argumente für Standort X beruhen auf den Vorteilen einer hohen Windausbeute und geringen Umweltauswirkungen. Um Ihre Argumentation zu stärken, könnten Sie zusätzliche Informationen wie Windmessungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen anführen. Auch die Berücksichtigung von potenziellen Auswirkungen auf Tier- und Pflanzenwelt sowie die Einbeziehung der lokalen Gemeinschaft in die Entscheidung könnten Ihre Argumentation verbessern." So lernt die Studentin, dank des Feedbacks durch ChatGPT, ihre Argumente zu validieren und – wie in diesem Beispiel – zu stärken.
Den Bock zum Gärtner machen?
Allerdings besteht auch die Gefahr, dass KI-Schreibtools im Schreibunterricht aus Zeitgründen unkritisch verwendet werden und plausibel und konform klingende Argumente anstelle von evidenzbasierten Argumenten im wissenschaftlichen Schreiben Studierender dominieren. Dabei wird gelingende Individualisierung mit Hilfe von KI, wie Philippe Wampfler (2023) es auf den Punkt gebracht hat, als persönliche Bildung verstanden. Es geht aber keineswegs darum, die Studierenden mit den Schreibtools sich selbst zu überlassen. Eine solche Lösung würde das Problem nur verstärken. Die Kritik- und Entscheidungsfähigkeit der Studierenden, die Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens, würde vermindert. Das wäre dann, wie es plakativ formuliert wird, der Tod des kritischen Denkens (New York Tech 2023). Zudem könnten Studierende, die sich teure Abonnements für KI-Schreibtools leisten, einen Vorteil gegenüber den Personen haben, denen solche Ressourcen finanziell nicht zugänglich sind. Ganz unabhängig von der persönlichen Lernerfahrung sind auch weitere ethisch-rechtliche Fragen zu klären, z. B. inwiefern die Firmen, die hinter den Schreibtools stehen, die Privatsphäre und Autonomie der Studierenden achten oder auch Biases und bestimmte kulturelle Normen verstärkt werden.
Unser Ziel: Ein Leitfaden für den Unterricht
Um einen konstruktiv-kritischen Umgang mit KI-Schreibtools für das Argumentieren im wissenschaftlichen Schreiben zu lehren, haben wir eine Arbeitsgruppe etabliert, die aus der Gründungstagung des Virtuellen Kompetenzzentrums: Schreiben und Lernen mit KI – Schreibtools und Techniken für Bildung und Wissenschaft am 23. März 2023 hervorgegangen ist (VK:KIWA 2023).
Unser Ziel als Arbeitsgruppe ist es, Lehrpersonen im wissenschaftlichen Schreiben einen Leitfaden zur Verfügung zu stellen, der die Grundlagen wirksamen Argumentierens im Rahmen des wissenschaftlichen Schreibens mit Hilfe von KI-Schreibtools beinhaltet sowie deren Chancen/Risiken für den Einsatz im Hochschulunterricht aufzeigt.
Die Diskussion der Zielsetzung bisher zeigt, dass es in den unterschiedlichen Fachbereichen teils andere Schwerpunkte und Akzente im schriftlichen Argumentationstraining gibt. Im Fach Recht spielt das Argumentationstraining im Curriculum beispielsweise eine andere Rolle als in den ingenieurswissenschaftlichen Fächern. Auch kann der Stellenwert des Argumentierens in unterschiedlichen Schul- und Universitätskulturen variieren. Im Fremdsprachenunterricht und in der Zusammenarbeit von internationalen Gruppen kommt ebenfalls eine kulturelle Dimension hinzu. Argumentationskonventionen, -strukturen und argumentative Schreibstile sind nicht universell (siehe beispielsweise Chen et al. 2022 oder Uysal 2012). Somit ist es möglich, dass Vorwissen und Inhalte voneinander abweichen und Lehrende wie Lernende vor anderen Herausforderungen stehen als in einer Gruppe, die auf gemeinsame Argumentationskonventionen zurückgreifen kann.
Zudem müssen sich Fremdsprachenlernende entsprechende Redemittel aneignen, um argumentative Gedankengänge in der Zielsprache korrekt und wirksam auszudrücken.
Diese unterschiedlichen Schwerpunkte möchten wir im Leitfaden beachten.
Was uns eint
Was uns jedoch im Umgang mit KI-Schreibtools für das Argumentationstraining eint, sind folgende Überzeugungen:
- Es ist unsere Aufgabe, allen Studierenden einen Zugang zu den neuen KI-Schreibtools zu ermöglichen. In der Unterrichtspraxis ist es im laufenden Semester durchaus noch so, dass viele Studierende die relevanten Schreibtools gar nicht kennen oder nutzen.
- Weiterhin bleibt es notwendig, konzeptionelles Denken durch selbständiges Schreiben zu trainieren, denn Schreibentwicklung ist immer auch „kognitive Entwicklung“ und zugleich „sozial eingebettetes Handeln“ (Kruse et al. 2006).
- Gute Fragetechniken, unabhängig vom sprachlichen oder wissenschaftlichen Niveau, sind wichtig, um KI-Schreibtools für Rückmeldungen zur Qualität der Argumente effektiv einsetzen zu können.
- Die Argumentationstrainings sollen für die Studierenden attraktiver werden, indem sie lernen, sich individuelleres Feedback zu ihren Texten zu holen. Gemäß einer OECD-Studie können KI-Schreibtools eine Vielzahl von Rollen in diesem Prozess übernehmen: von der „possibility engine“ über den „socratic opponent“ bis hin zum „study buddy“ (UNESCO 2023).
So kann es funktionieren
Zusammenfassend gehen wir davon aus, dass die Integration von KI-Schreibtools in das wissenschaftliche Schreiben das Potenzial hat, die Argumentationsfähigkeit der Studierenden zu entwickeln und ihre kritischen Denkfähigkeiten zu stärken. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten, um sicherzustellen, dass das Feedback durch diese Schreibtools verantwortungsbewusst und kritisch genutzt wird. Als engagierte Dozierende ist es unsere Aufgabe, einen konstruktiv-kritischen Umgang mit KI-Schreibtools zu fördern und allen Studierenden den Zugang zu diesen Hilfsmitteln zu ermöglichen. Indem wir die Grundlagen für kritisches Denken und wirksames Argumentieren stärken, können wir die Qualität des wissenschaftlichen Schreibens mit Hilfe künstlicher Intelligenz verbessern.
Weitere Informationen zur Arbeitsgruppe
In der Arbeitsgruppe arbeiten aktuell mit: Jenny Baese, HTW Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden; Bärbel Bohr, OST Ostschweizer Fachhochschule, Campus Rapperswil-Jona; Mirjam Daum, TU Clausthal; Astrid Dreyer, HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen; Birgit Oberer, ETCOP Institute for Interdisciplinary Research Klagenfurt; Hendrijke Paarmann, Universität Rostock; Uta Scheer, Universität Göttingen; Jessica Schulze-Bentrop, TU Clausthal; Annette Verhein-Jarren, freiberufliche Kommunikationsberaterin, vormals OST Ostschweizer Fachhochschule, Campus Rapperswil-Jona
Falls Sie Interesse an einer Mitarbeit haben, wenden Sie sich bitte an: [email protected]
Literatur
Buck, Isabella; Limburg, Anika (2023): Hochschulbildung vor dem Hintergrund von Natural Language Processing (KI-Schreibtools) Ein Framework für eine zukunftsfähige Lehr-und Prüfungspraxis. In: die hochschullehre 9 (6), S. 70–87. DOI: 10.3278/HSL2306W.
Chen, Wei-Fan; Chen, Mei-Hua; Wachsmuth, Henning (2022): Analyzing Culture-Specific Argument Structures in Learner Essays. In: Lapesa, Gabriella et al. (Hg.): Proceedings of the 9th Workshop on Argument Mining. 29th International Conference on Computational Linguistics. Gyeongju, Republic of Corea & Online, S. 51–61. Online verfügbar unter https://aclanthology.org/2022.argmining-1.4/, zuletzt geprüft am 02.08.2023.
Jansen, Thorben; Meyer, Jennifer (2022): Argumentieren lernen mit automatisiertem Feedback. Plan BD. Online-Magazin für Schule in der Kultur der Digitalität. Online verfügbar unter https://magazin.forumbd.de/lehren-und-lernen/argumentieren-lernen-mit-automatisiertem-feedback/, zuletzt geprüft am 02.08.2023.
Kruse, Otto; Knorr, Dagmar; Ulmi, Marianne (2006): Prozessorientierte Schreibdidaktik: Schreibtraining für Schule, Studium und Beruf. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt.
Limburg, Anika et al.: Zehn Thesen zur Zukunft des Schreibens in der Wissenschaft - Diskussionspapier. Hochschulforum Digitalisierung. Online verfügbar unter https://hochschulforumdigitalisierung.de/sites/default/files/dateien/HFD_DP_23_Zukunft_Schreiben_Wissenschaft.pdf, zuletzt geprüft am 05.07.2023.
Muthmainnah; Ibna Seraj, Prodhan Mahbub; Oteir, Ibrahim (2022): Playing with AI to Investigate Human-Computer Interaction Technology and Improving Critical Thinking Skills to Pursue 21st Century Age. In: Education Research International 2022, e6468995. DOI: 10.1155/2022/6468995.
New York Tech (2023): ChatGPT: The Future of Learning or the Death of Critical Thinking? Online verfügbar unter https://www.nyit.edu/ctl/blog/chatgpt_the_future_of_learning_or_the_death_of_critical_thinking, zuletzt geprüft am 28.06.2023.
UNESCO (2023): ChatGPT and Artificial Intelligence in higher education. Quick start guide (Education 2030). Online verfügbar unter https://www.iesalc.unesco.org/wp-content/uploads/2023/04/ChatGPT-and-Artificial-Intelligence-in-higher-education-Quick-Start-guide_EN_FINAL.pdf, zuletzt geprüft am 02.08.2023
Uysal, Hacer Hande (2012): Argumentation across L1 and L2 Writing: Exploring Cultural Influences and Transfer Issues. In: Vigo International Journal of Applied Linguistics (9), S. 133–159. Online verfügbar unter https://revistas.uvigo.es/index.php/vial/article/view/53/53, zuletzt geprüft am 19.07.2023.
Wampfler, Philippe (2023): KI und das problematische Versprechen der Individualisierung. Online verfügbar unter https://schulesocialmedia.com/2023/06/26/ki-und-das-problematische-versprechen-der-individualisierung/, zuletzt geprüft am 29.06.2023.