KI-Sprachtools als Chance für Sichtbarkeit und Relevanz von Schreibzentren
Isabella Buck
27. April 2023
Eine der wesentlichen Grundannahmen der Schreibdidaktik ist, dass Schreiben ein komplexer kognitiver Prozess ist, im Rahmen dessen iterativ, rekursiv und meist auch gleichzeitig diverse Teilaufgaben bewältigt werden müssen (Hayes & Flower, 1980; Ruhmann & Kruse, 2014, S. 17). Für viele dieser Teilaufgaben können inzwischen KI-Sprachwerkzeuge als Hilfsmittel eingesetzt werden, etwa zur Literaturrecherche oder zur Überarbeitung von Textentwürfen. Vor dem Hintergrund einer zu erwartenden Transformation des akademischen Schreibens (Limburg et al., i. V.) stellt sich die Frage, wie schreibdidaktische Einrichtungen an Hochschulen auf die Entwicklungen im Bereich des Natural Language Processing reagieren müssen. Auf den ersten Blick scheint es möglicherweise so, als bräuchten Studierende nun keine Schreibkompetenz mehr zu erwerben, da KI-Tools per Mausklick wissenschaftliche Texte produzieren können. Und selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte: KI-Tools können Studierende beim wissenschaftlichen Schreiben unterstützen und ihnen individuell weiterhelfen. Verfolgt man diese Argumentationslinie weiter, würden Schreibzentren in letzter Konsequenz sinnlos werden. Ziel meines Blogartikels ist es vor dem Hintergrund dieser Dystopie, im Sinne eines empowernden Zugangs dafür zu argumentieren, dass die gegenwärtige Disruption des Hochschulsystems eine große Chance für Schreibzentren und Schreibberatung mit sich bringt. Anstelle von Angst vor einer Abschaffung dieser Einrichtungen plädiere ich daher für eine Mentalität des ‚Ärmel Hochkrempelns‘, die eigene Stärken bewusstmacht und strategisch sowie sinnstiftend einsetzt.
Schreibzentren und der studentische Kompetenzerwerb im KI-Zeitalter
In hochschulischen Schreibzentren unterstützen ausgebildete Schreibberater:innen Studierende im Schreibprozess und helfen ihnen dabei, eigene Schreibstrategien und damit letztlich Schreibkompetenz zu entwickeln – in individuellen Beratungen, häufig auf Peer-to-Peer-Ebene, und/oder in Seminarkontexten. Grundannahme dabei ist, dass der Schreibprozess individuell verläuft und dass Schreiben vor allem durch kontinuierliche Übung gelernt werden kann (Girgensohn, 2017, S. 55). Würde dieser Blogartikel einer dystopischen Perspektive entspringen, die mit Grundannahmen der Schreibwissenschaft und -didaktik nicht vertraut wäre, wäre er an dieser Stelle zu Ende. Wenn Studierende KI-Werkzeuge einsetzen, um Feedback auf ihre Textentwürfe zu erhalten oder ihren Schreibprozess gar komplett an eine KI auslagern, ließe sich argumentieren, dass Schreibzentren keine Daseinsberechtigung mehr haben. Hier wird stattdessen eine andere Sicht entwickelt – wie also komme ich zu meiner empowernden Perspektive?
KI-Schreibwerkzeuge werden den Schreibprozess grundlegend ändern, dies steht fest (Buck & Limburg, i. Ersch.). Die Anliegen der Studierenden, die die Schreibberatung aufsuchen, werden zwar auf einer sehr generellen Ebene gleich bleiben – Studierende werden unsere Beratung auch künftig in Anspruch nehmen, um über ihren Schreibprozess zu sprechen und eigene Unsicherheiten und Gefühle der Überforderung zu thematisieren, die im KI-gestützten Schreibprozess ebenso auftreten wie im Schreibprozess ohne KI. Auf einer granulareren Ebene aber wird es viele veränderte Anliegen geben. Denn ja, KI-Tools können im Sinne des cognitive offloading (Risko & Gilbert, 2016) Schreibende im Schreibprozess entlasten, für Orientierung sorgen, der Inspiration dienen und zu einer Optimierung des Textproduktes beitragen. Gleichzeitig übernehmen KI-Tools diese Funktionen aber nicht einfach so, sondern nur dann, wenn Schreibende sie kompetent steuern, bewusst in ihren Schreibprozess einbauen, die Kollaboration mit der KI monitoren, die KI-Outputs sorgfältig beurteilen und sie als Ausgangspunkt für die eigene Weiterarbeit nutzen. Diese Kompetenzen haben Studierende mit dem Einzug von KI-Sprachwerkzeugen ins wissenschaftliche Schreiben aber nicht automatisch. Ebenso wie bei anderen Kompetenzen braucht es auch hier ein planvolles Agieren, um den Kompetenzerwerb der Studierenden zu unterstützen und nachhaltiges Lernen zu fördern. Schreibzentren sind prädestiniert dafür, an Hochschulen Wegbereiter zu sein für die Etablierung entsprechender überfachlicher Angebote, die im Sinne des flächendeckenden Kompetenzerwerbs jedoch curricular eingebettet sein sollten. Wenn Lehrende künftig voraussetzen, dass Studierende für niedere kognitive Aufgaben selbstverständlich auf KI-Sprachtools zurückgreifen, werden zudem die Anforderungen an wissenschaftliche Arbeiten steigen (Buck & Limburg, i. Ersch.). Diese können die Studierenden nur dann erfüllen, wenn sie kompetent mit den Tools umgehen können. Zudem werden Schreibprozesse aufgrund der KI-bedingten Zunahme an Gestaltungsmöglichkeiten noch komplexer werden, als sie es ohnehin schon sind. Der sinnvolle Einsatz von KI-Tools einerseits zur Entlastung, andererseits aber auch zur Optimierung von Schreibprozess und -produkt ist daher eine zentrale Aufgabe, bei der Schreibzentren unterstützen können – und im Sinne einer kompetenzorientierten Hochschullehre auch unterstützen müssen, wollen sie ihrem grundlegenden Auftrag gerecht werden. Der Weg vom leeren Blatt zum abgabefertigen Text wird auch im KI-Zeitalter kein ‚Spaziergang‘ sein, sondern wird stellenweise, wie aufgezeigt, noch komplexer, sodass Schreibzentren sogar an Bedeutung gewinnen können.
Zentral hierfür ist aber, dass Schreibzentren sich entsprechend aufstellen und all ihren Mitarbeitenden, studentischen wie nicht-studentischen, adäquate Fortbildungsmöglichkeiten anbieten. Im Zentrum der schreibdidaktischen Arbeit sollte dann stehen, Studierende zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit KI-Sprachwerkzeugen zu befähigen. Hierfür wiederum ist die Ausbildung von Metakognition essentiell, die auch als wesentlicher Faktor für die Entwicklung hin zu professionellen Schreibenden gilt (Taczak & Robertson, 2017). Schreibzentren sollten daher in Beratungen wie in Seminaren die Entwicklung von Metakognition fördern, sodass Studierende ihren Schreibprozess steuern können, KI-Werkzeuge sinnvoll in ihren Schreibprozess integrieren und dies reflektieren, sich als handlungsfähige Akteur:innen begreifen und am Ende ihre textuellen Lösungen erklären, verteidigen und so letztlich dafür Verantwortung übernehmen können. Damit leisten Schreibzentren einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung klassischer, im KI-Zeitalter nochmals auf ganz neue Weise bedeutsamer Kompetenzen wie kritischem Denken, Argumentations- und Reflexionsfähigkeit – und können sich damit im Gesamtkontext der Institution ‚Hochschule‘ als Einrichtungen von zentraler Relevanz positionieren, wie ich im Folgenden zeigen werde.
Schreibzentren und Hochschulentwicklung im KI-Zeitalter
An Hochschulen finden aktuell viele Diskussionen rund um KI-Schreibwerkzeuge wie insbesondere ChatGPT statt. Während nach dem Launch von ChatGPT entsprechende Tools an einigen Hochschulen verboten wurden, realisieren diese inzwischen immer mehr, dass es keinen anderen gangbaren Weg gibt als den, sich mit den Implikationen von KI-Tools für Studium, Lehre und Prüfen, kurz: für das gesamte Hochschulsystem, auseinanderzusetzen. Das Spektrum der Stimmen, welche Konsequenzen daraus erwachsen, reicht dabei von konservativ-kritischen bis hin zu euphorisch-visionären. Für Schreibzentren bieten die gegenwärtig im Anstoßen begriffenen Hochschulentwicklungsprozesse dabei eine große Chance, sich in die aktuellen Diskussionen einzubringen, diese um ihre schreibdidaktische Perspektive zu bereichern und so von einer breite(re)n Hochschulöffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Mehr noch: Ich betrachte es sogar als Imperativ, dass sich Schreibzentren proaktiv in die gegenwärtigen Debatten einbringen. Zu leicht sind Akteur:innen an Hochschulen ansonsten möglicherweise zur Annahme verleitet, dass Schreibkompetenz künftig nicht mehr gefördert werden muss, da ohnehin die KI alles übernehmen kann, Personal an Schreibzentren eingespart und ggf. keine wissenschaftlichen Arbeiten mehr geschrieben werden sollten. Dies wiederum nähme am Ende den Schreibzentren in der Tat ihre Daseinsberechtigung. Wenn Akteur:innen aus der Hochschulleitung oder Fachlehrende Schreiben aber lediglich als eine von vielen anderen sog. Schlüsselkompetenzen verstehen, verkennen sie die Tragweite der Entwicklung von Schreibkompetenz und deren Bedeutung für die akademische Sozialisation.
Der Erwerb von Schreibkompetenz lässt sich als „Teilhabe[ ] an sozialen sprachlichen Praktiken“ (Karsten, 2022, S. 87–88) konzeptualisieren. Aus einer solchen dialogischen Perspektive, die der Komplexität sozialen Lernens Rechnung trägt, steht Schreiben in Zusammenhang mit Fragen von Macht und Zugehörigkeit, letztlich aber auch mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben, und der Einnahme einer grundsätzlich skeptischen und überprüfenden Haltung. Schreibzentren stehen vor diesem Hintergrund in der Pflicht, zu argumentieren, warum Entwicklung von Schreibkompetenz nach wie vor zentral ist – nämlich genau, um grundlegende akademische Kompetenzen wie kritisches Denken, Argumentations- und Reflexionsfähigkeit zu fördern. Gegenüber Akteur:innen der Hochschulentwicklung kann die Ausbildung von Schreibkompetenz daher auch als Förderung von Future Skills (Kotsiou et al., 2022) etikettiert und Schreibzentren können explizit als Einrichtungen positioniert werden, die diese unterstützen. Die Förderung von Future Skills dürfte an Hochschulen immer mehr Gewicht gewinnen (Ehlers, 2020, 279–280), weshalb eine solche Positionierung von Schreibzentren eine strategische und zukunftsgerichtete ist.
Gleichzeitig spielt Schreiben eine wichtige Rolle für die fachliche Sozialisation (Carter, 2007): Da Schreiben die Art und Weise widerspiegelt, wie Wissen innerhalb einer Fachgemeinschaft erzeugt wird (Bazerman, 1981), müssen Studierende allein deshalb fachliche Texte verfassen, um mit der Denkweise ihres Faches vertraut zu werden, sich die entsprechenden Konventionen anzueignen und fachliche Inhalte zu durchdringen (Wingate, 2011). Dieses Potenzial von Schreiben muss auch im KI-Zeitalter erhalten werden. Schreibzentren können hier eine wichtige Rolle spielen, indem sie Schreiben als eines der zentralen Lerninstrumente propagieren, Lehrenden eine schreibintensive Lehre mit KI-Tools nahebringen und damit wiederum ihre eigene Bedeutung stärken. Hierfür wäre eine engere Kooperation mit anderen Einrichtungen des Third Space, etwa der Hochschuldidaktik, sicher von Vorteil.
Halten wir am Ende fest: Schreibzentren haben aufgrund ihrer Expertise viele Antworten auf Fragen, die Hochschulleitende wie Lehrende in Anbetracht der technologischen Transformationen derzeit umtreiben. Mein Plädoyer an Schreibzentren lautet deshalb: Lasst uns proaktiv, mutig und mit Blick auf die von KI geprägte Zukunft agieren! Seien wir uns unserer Kompetenzen bewusst! Erheben wir unsere Stimme im Diskurs und bringen das ein, was wir als Schreibdidaktiker:innen und Schreibwissenschaftler:innen zu sagen haben! Auch wenn es für manche zunächst vielleicht kontraintuitiv erscheinen mag: Die aktuellen Entwicklungen rufen mehr denn je nach Schreibzentren an Hochschulen, sodass nun endgültig unsere Zeit gekommen ist. Letztlich kann auf diese Weise für unsere Arbeit selbst wiederum ein doppelter Nutzen entstehen, wie Hoffmann & Knorr (2021, S. 4) ihn zuletzt für das Qualitätsmanagement an Schreibzentren formuliert haben: Die technologische Transformation legitimiert unsere Arbeit zum einen, zwingt uns gleichzeitig aber auch dazu, sie kontinuierlich weiterzuentwickeln.
Dieser Beitrag ging aus dem Think Tank „KI im Schreibzentrum und mit Schreibtutor:innen“ hervor. Haben Sie Interesse an einer Mitarbeit, wenden Sie sich gerne an [email protected]
Literatur
Bazerman, C. (1981). What Written Knowledge Does: Three Examples of Academic Dis-course. Philosophy of the Social Sciences, 11 (3), 361–387. https://doi.org/10.1177/004839318101100305
Buck, I. & Limburg, A. (i. Ersch.). Hochschulbildung vor dem Hintergrund von Natural Language Processing (KI-Sprachwerkzeuge). Ein Framework für eine zukunftsfähige Lehr- und Prüfungspraxis. Erscheint in: die hochschullehre 2023.
Carter, M. (2007). Ways of Knowing, Doing, and Writing in the Disciplines. College Compo-sition and Communication, 58 (3), 385–418.
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Kotsiou, A., Fajardo-Tovar, D. D., Cowhitt, T., Major, L., & Wegerif, R. (2022). A scoping review of Future Skills frameworks. Irish Educational Studies, 41(1), 171–186. https://doi.org/10.1080/03323315.2021.2022522
Limburg, A., Bohle, U., Buck, I., Edlich, M. Grieshammer, E., Gröpler, J., Knorr, D., Lina Lorca, A., Mundorf, M., Schindler, K., Vode, D., Wilder, N. (i. V.). Zehn Thesen zur Zukunft des Schreibens in der Wissenschaft. Erscheint beim Hochschulforum Digitalisierung.
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