Zur Frage einer prozessorientierten Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen

Positionspapier

Isabella Buck, Hendrik Haverkamp, Anika Limburg, Nadine Lordick, Kirsten Schindler & Nicolaus Wilder


1. März 2023

In der Diskussion um textgenerierende KI im Kontext Hochschule wird die Beurteilung von schriftlichen Prüfungsleistungen wie Haus- und Abschlussarbeiten als schwierig betrachtet, weil der Text nicht mehr zweifelsfrei Niederschlag der Fähigkeiten seines Autors bzw. seiner Autorin ist. Bislang gibt es mindestens drei Strategien, wie Hochschulen damit umgehen: KI-Werkzeuge werden in Prüfungskontexten grundsätzlich verboten, KI-Werkzeuge werden nicht adressiert, oder sie werden grundsätzlich erlaubt. Alle Strategien erscheinen aus verschiedenen Blickwinkeln zumindest begründungspflichtig (siehe auch Buck & Limburg, einger.). 

Als Alternative oder Ergänzung zur Bewertung des Produktes wird daher häufig auf eine stärker prozessbegleitende Bewertung verwiesen, nicht um dadurch die Nutzung von KI-Tools zu verhindern, sondern um sicherzustellen, dass Studierende den Schreibprozess aktiv gestalten und den Text und seine Teilergebnisse verantworten. Aus schreibdidaktischer Sicht ist der Fokus auf den Prozess und seine Unterstützung bzw. prinzipielle Begleitung zu begrüßen: Formatives Feedback ist für die Entwicklung von Schreibkompetenz ebenso wichtig wie Interaktion und damit Austausch über das Schreiben, das immer in einen sozialen Rahmen eingebettet ist. Fließt die Prozessbegleitung allerdings in die Notengebung ein, wirft dies Schwierigkeiten auf, die in der Diskussion bislang zu wenig reflektiert scheinen.

  • Grundsätzlich ist zu fragen, wie eine solche prozessbegleitende Bewertung aussehen kann und wie sie kapazitiv zu leisten ist – insbesondere von Lehrenden mit einem hohen Lehrdeputat und Lehrveranstaltungen mit vielen Studierenden. 


  • Eine weitere Frage ist, welche Ziele mit der Forderung nach einer Prozessbewertung verbunden sind. Wenn es darum geht, eine bessere Nachweisbarkeit der studentischen Eigenständigkeit zu erreichen, ist die Zweckdienlichkeit zu bezweifeln: Letztlich kann jede Phase bzw. jedes Zwischenprodukt eines Prozesses (z. B. Forschungsdesign) durch ein KI-Tool vorbereitet oder erstellt werden.


  • Untersuchungen zeigen (u. a. Ortner, 2000), dass Schreibprozesse sehr unterschiedlich verlaufen, Arbeitsweisen individuell und Schreibstrategien divers sind. Es existieren vielfältige Möglichkeiten, wie Studierende zum fertigen Text gelangen können, die alle gleichberechtigt nebeneinander stehen dürfen. Kriterien für eine Prozessbewertung müssten diese Diversität abbilden und gleichzeitig eine Vergleichbarkeit der Bewertung ermöglichen. 


  • Im Prozess des Schreibens setzen sich Studierende intensiv mit einem Thema auseinander, recherchieren, lesen, sprechen darüber und haben somit einen sukzessiven Wissenszuwachs. Erste Entwürfe, beispielsweise der Gliederung, sind daher zwangsläufig meist unzulänglich. Wie aber könnte dies in einer Prozessbewertung berücksichtigt werden?


  • Zudem kann Schreiben in besonderer Weise epistemisches Potenzial entfalten. Beim Schreiben werden Gedanken daher auch erst entwickelt bzw. verworfen oder geschärft. Das, was im Prozess möglicherweise als unvollständig bewertet werden würde, kann am Ende ein essentieller, wichtiger Bestandteil bei der Entwicklung eines sehr guten Endproduktes sein. Der Stellenwert von Schreiben als Denkmedium und damit als wertvolles Instrument für den Erkenntniszuwachs wäre zumindest in Frage gestellt, wenn Studierende diesen annähernden, tentativen Weg nicht beschreiten dürfen, da sie sich um die Bewertung sorgen. Wie ließen sich also – auch vermeintlich – unvollständige Zwischenprodukte sinnvoll bewerten?


  • Der Schreibprozess ist ein Lernprozess, d. h. Fehler und Unzulänglichkeiten sind systematischer Bestandteil dieses Prozesses. Diese Lerngelegenheit muss auch bei einer prozessorientierten Bewertung gewahrt bleiben.


  • Gleiches gilt für die Funktion der Betreuung eines Prozesses: Lehrende agieren hier in unterschiedlichen Rollen, sie fungieren als Betreuende und Diskurspartner:innen, sie nehmen aber auch die Rolle von Prüfenden ein. Es ist wichtig, dass auch bei einer prozessorientierten Bewertung Rollenklarheit herrscht und die Studierenden in vertrauensvoller Atmosphäre Erfahrungen sammeln und Unsicherheiten zeigen können.


  • Gerade die Phase der Betreuung lässt sich als wichtiges Moment der Sozialisation von Studierenden in den Wissenschaftsbetrieb nutzen, weil sie dort das wissenschaftliche Gespräch einüben können. Der Druck, der aufgrund einer Bewertungssituation auf Studierenden lastet, könnte dies unterlaufen.


Bislang stellt die intensive Begleitung von Studierenden bei ihrem Schreibprozess keine obligatorische Aufgabe von Lehrenden dar, wenngleich dies aus einer schreibdidaktischen Perspektive ein wichtiger Ansatzpunkt für die Entwicklung von Schreibkompetenz ist. Eine Obligatorik wäre jedoch Bedingung für eine prozessorientierte Leistungsbeurteilung. Dies würde jedoch nicht nur viele Lehrende vor große zeitliche Herausforderungen stellen, sondern auch die Eigenständigkeit von Lernenden einschränken, selbst zu entscheiden, wie und bei wem (und ob überhaupt) sie sich Unterstützung suchen. Insgesamt muss also austariert werden, wie diese verschiedenen Perspektiven sinnvoll aufeinander zu beziehen sind.

Betrachtet man die Debatte um den Einbezug der Prozessdimension in die Leistungsbeurteilung vor einem größeren Hintergrund, muss letztlich konstatiert werden, dass diese die Hochschulen nicht von der Diskussion der Frage nach zeitgemäßen Prüfungsformaten entbindet: Die von manchen anvisierte prozessorientierte Leistungsbeurteilung darf nicht als schnelle Lösung interpretiert werden, die eine umfassende Reform des Prüfungswesens obsolet macht. Die Entwicklungen im Bereich des natural language processing (NLP) sind eine große Chance, grundsätzlich über die Prüfungspraxis an Hochschulen nachzudenken und diese neu zu gestalten. Diese Chance sollte nicht vertan werden.

Literatur

Buck, I. & Limburg, A. (einger.): Hochschulbildung vor dem Hintergrund von Natural Language Processing (KI-Sprachtools). Ein Framework für eine zukunftsfähige Lehr- und Prüfungspraxis. Eingereicht bei: die hochschullehre.


Ortner, H.-P. (2000): Schreiben und Denken. Niemeyer.